Eine Zeitlang jobbte ich an der französischen Atlantikküste als Guide für touristische Ausritte am Strand. Zusammen mit knapp 60 Pferden verbrachte ich die Hitze des baskischen Sommers in den Pinienwäldern hinter der Düne, die zum Strand führte. Eines Abends kam unser Chef vorbei, um mit uns einen freien Nachmittag lang auszugehen – und uns eine Corrida zu zeigen.
Im Baskenland gibt es noch regelmäßig Stierkämpfe. Bedenken und Ablehnung wischte er lässig beiseite, Tickets hatte er eh schon gekauft. Es war eine portugiesische Corrida: Die Piquadores ritten zu Pferd und die Stiere wurden nicht per Schwertstoß vor den Zuschauern zur Strecke gebracht, sondern nach der Show erschossen. Während der Fahrt war mir ein wenig schlecht, el Cheffe erklärte uns während dessen munter die Hintergründe des Stierkampfes.
Er beschrieb uns die riesigen Wiesen Andalusiens, auf welchen die schwarzen Tiere in großen Herden ihr Leben verbrachten – frei von Menschen, frei von Stallungen, frei von Misshandlungen. Der Stier, erklärte er uns, wird nicht aufgrund von Verachtung getötet. Er wird verehrt und bewundert. Dennoch dient seine Tötung im Kern nur dem Ausdruck der Macht des Menschen über ein so imposantes Wesen. Obwohl ich immer noch zitterte über das Bevorstehende, schlich sich ein Gedanke in meinen Kopf: Wenn ich als Stier wiedergeboren würde, dann bitte als Kampfstier in Andalusien, nicht als Masttier in Deutschland.
In der Arena war die Stimmung unerwartet fröhlich. Kinder krochen unter den Sitzbänken umher, eine Band spielte eine beschwingte Melodie, Verkäufer liefen mit Erdnüssen und Sonnenblumenkernen durch die Ränge. Die ausgelassene Erwartung ließ sich beinahe mit Händen greifen. Ich vergaß für einen Moment, was folgen würde. Einige Reiter führten spielerisch prahlend ihr Können vor. Für eine Weile versank ich in diesem beeindruckendem Zusammenspiel von Mensch und Tier.
Doch dann betrat der erste Stier die Arena. Jubel prallte ihm von allen Seiten entgegen. Er war kleiner und gedrungener als ich erwartet hatte, weniger erhaben. Er urinierte vor Angst. Ein einzelner Reiter stand ihm gegenüber. Der Kampf begann.
Bald verlor ich das Zeitgefühl. Stiere und Reiter wechselten sich ab. Die Stimmung drehte sich: Zuschauer schrien und feuerten die Tiere an wie ein einzelnes, vielstimmiges Wesen. Es roch immer durchdringender nach Schweiß, Urin, Sägemehl und süßlichem Blut. Es rann in kleinen Bächen aus den Wunden der massigen Tiere auf den Boden.
Die Menschen auf den Rängen schüttelten ihre Zivilisiertheit ab. Sie standen auf, brüllten und schrien, tanzten und sogen begierig die Ausdünstungen der Gewalt ein. Je später es wurde, desto deutlicher zeigten sie ihre Hoffnung, der Stier möge siegen und den Reiter wie eine Puppe von seinem Pferd fegen. Die Stimmung war aufgeputscht, rau, ja beinahe sexuell in ihrer Intensität. Obwohl sie mich für einige kurze Momente mit sich riss, war ich entsetzt. Eine solche Atmosphäre passte nicht in meine Zeit, in meine Welt. Es war die blutrünstige Erregtheit der Gladiatorenkämpfe, nicht die kühle Gelassenheit der Aufklärung. Es war der Mob, die Vorstufe zur Massenhysterie.
Ich versuchte, jenen archaischen Teil in mir, der einfach alles Denken ausschalten und mitfiebern wollte, zu unterdrücken. Es war schwieriger als ich es mir hätte vorstellen können.
Als es vorbei war, leerten sich die Ränge nur langsam. Erstaunlich schnell stellten sich Normalität und Zivilisation wieder ein. Ein Kind hatte einen Schmetterling gefangen und schickte sich an, seine Flügel zu verstümmeln. Seine Mutter rügte es lauthals ob der Tierquälerei. Ein paar Jugendliche schauten betreten auf die roten Flecken im Sägemehl. Jeder gestattete sich einen halben Augenblick Scham, bevor er die Arena verließ und sich auf den Weg zum Abendessen machte.
Wir alle kehrten zurück zur Normalität. Zu jener Welt, in welcher Tiere nicht im Licht der Öffentlichkeit gequält werden. Zurück zu den sauberen, ästhetisch beleuchtet und verpackten, unblutigen Schnitzeln aus dem Supermarkt.