Die Transitzone

Der Weg von und zur Arbeit kann im winterlichen Berlin lang und grau sein. Die Sonne versteckt sich morgens noch hinter den Häuserfassaden. Abends – auf dem Rückweg – ist sie schon lange untergegangen. Nicht, dass dies von Relevanz wäre: Unterhalb der Stadt erreicht kein Sonnenstrahl das U-Bahn-Geflecht. Dort unten rasen tausende Menschen ihren Arbeitsplätzen entgegen – verschlafen, mürrisch und leidlich unmotiviert.

Die morgendliche U-Bahn hat nichts gemeinsam mit den fröhlichen Fahrten der Touristen am späten Vormittag. Es ist eine Welt des abgeschotteten Nebeneinanders. Kein Augenkontakt, kein Körperkontakt. Musik auf den Ohren und abgewandte Blicke signalisieren jedem deutlich, Abstand zu halten. In der engen, vollen Röhre ist jeder mit sich selber beschäftigt. Die einen versuchen, noch etwas Ruhe vor dem Arbeitstag zu bekommen. Andere lassen sich die Aufgaben des Tages schon einmal durch den Kopf gehen.

Abends kommt die Müdigkeit und Genervtheit zum Vorschein. Ab und an auch etwas Vorfreude auf den Feierabend. Es ist ein wahres Kunststück, bei so vielen Menschen auf einem Haufen Augenkontakt zu vermeiden. Kommunikation findet dennoch statt – nonverbal. Ein vorsichtiges, aber demonstratives Wegrücken vom Sitznachbar zu Beispiel. Oder ein verärgertes Kopfschütteln über laute Mitfahrer. Manchmal, selten, auch ein Lächeln. Alles in allem könnte ich mir fröhlichere Arbeitswege vorstellen.

Doch dann gibt es die Sonnenstrahlen. Ich habe Glück: Auf meinem Fahrweg gibt es derer gleich zwei: einen morgens und einen abends.

Mein Lieblingszug fährt morgens um 7:25 ab. An einer bestimmten Station hält er immer etwas länger als bei allen anderen. Anfangs war es eine dieser Kuriositäten, die im Leben immer wieder auftauchen, ohne dass man lange darüber nachdenkt. So, wie eine übersprungene Hausnummer in einer Häuserreihe oder ein zugenageltes Fenster in einer neuen Fassade. Je genauer man hinsieht, desto mehr dieser kleinen Eigenartigkeiten tauchen um einen herum auf. „Das war schon immer so“ und ein Achselzucken sind oft die einzigen Antworten darauf. Aber hinter jedem dieser Stolpersteine im reibungslosen Ablauf des Lebens versteckt sich eine kleine Geschichte.

So auch in der verlängerten Stehpause der 7:25er U-Bahn.

Man muss ganz vorne im ersten Wagon sitzen, um es zu sehen. Jeden Morgen wartet ein Rotkäppchen auf den Fahrer des Zuges. Zugegeben – Rotkäppchen ist um die vierzig, trägt Jeans und sieht verschlafen aus. Doch in den Händen hält sie einen geflochtenen Korb, den sie dem Fahrer überreicht – immerhin ein kleines Augenzwinkern zur Märchenvorlage!

Regelmäßige Fahrer der 7:25er kennen das Ritual. Und mehr noch: Sie freuen sich darauf. In einer Zeit, in welcher jede Sekunde zu zählen scheint und ein Zeitplan stets eingehalten werden muss, heben sie erwartungsvoll die Köpfe, um den kleinen Zeitverlust zu genießen. Hinter jedem verträumten Augenpaar spielt sich eine andere Geschichte ab. Ist sie eine heimliche Geliebte? Oder die pflichtbewusste Tochter? Oder etwa die Frau des Fahrers, die ihn vor dem Start des Tages noch einmal sehen möchte?

Wir, die das Geheimnis kennen, vermissten das Rotkäppchen vor einigen Wochen. Besorgte Blicke wurden im ersten Wagon ausgetauscht. Der eine oder andere rutsche unruhig auf seinem Sitz hin und her. Wo blieb sie nur? Hatte sie Urlaub oder war sie gar krank? Der kleine Schluckauf im ansonsten reibungslosen Fahrplan hatte uns alle berührt und ein Stück weit zusammengebracht.

Der abendliche Sonnenschein meines Rückwegs besteht aus zwei Menschen. Das ungleiche Pärchen scheint geradewegs aus einer Romanwelt von Eric Emanuel Schmitt oder Carlos Ruiz Zafón in unsere Realität gefallen zu sein. Aus einer Welt, die unserer beinahe gleicht, aber so wundervolle Gestalten beherbergt – märchenhaft, voller Leichtigkeit und doch bedeutsam. Figuren, die hier viel zu selten überleben.

Vier Stationen lang teilen wir uns ein Wagon mit ihnen: ein alter Mann und ein dunkelhäutiger Junge. Es ist schwer zu beschreiben, weshalb genau die beiden stets ein Licht aufgehen lassen. Vielleicht ist es die nahezu fühlbare Liebe zwischen den beiden. Vielleicht ist es auch die ausgelassene Lebensfreude, die sie versprühen. Oder vielleicht die Unbefangenheit, die sie im Umgang miteinander und mit den anderen Passagieren pflegen?

All dies spielt sicherlich eine Rolle. Doch reicht es nicht aus, zu erklären, weshalb alle Mitfahrer lächelnd zusehen, wie der Junge auf den Sitzen herumklettert und durch den Mittelgang rennt. Bei jedem anderen Kind würde dieses Verhalten gerunzelte Stirnfalten und missbilligende Blicke hervorrufen. Doch ihm begegnen wohlwollende, freundliche Gesichter.

Auch hier rast die Phantasie erst einmal los und versucht, eine Geschichte rund um die beiden zu entwickeln. Sind sie Großvater und Enkel? Eine Adoptivfamilie? Schnell schaltet das Gehirn aber ab: »Halt die Klappe und genieß die Sonne!«. Ich füge mich gern.

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