Vom Schreiben guter Nachrichten

In einer regionalen Redaktion ticken die Uhren anders als in der Zentrale einer großen Tageszeitung. In solch einer kleinen Redaktion absolvierte ich letzten Sommer ein Praktikum. Ich bereicherte die Belegschaft um ein Drittel, nun gab es einen Chefredakteur, einen Photographen und mich. Meine Begeisterung hielt sich im Vorfeld vornehm im Hintergrund.

Ich sah die Themenvielfalt regionaler Nachrichten wie einen Wüstenpfad vor mir liegen: Hier ein Fischerwettbewerb im Nachbardorf, dort eine Frau 100 geworden, hin und wieder ein Hund entlaufen … geht es noch langweiliger? Ich wollte Aktion, Drama, Intrigen und bekam stattdessen den örtlichen Pétanqueverein.

Doch mit der Zeit veränderte sich meine Perspektive. Ich vergaß die reißerischen Träume und verlagerte mich auf die Beschreibung kleiner Beobachtungen und Ereignisse. Nach und nach erkannte ich die Ruhe, die Gesetztheit dieser Arbeit.

Wöchentlicher Markt in Saint-Gaudens

Mein erster Artikel war ein Portrait von einem lokalen Artisan – einem Kunsthandwerker. Kaum hatte ich an meinem allerersten Arbeitstag die Redaktion betreten, wurde ich vom Chef schon überrumpelt: »Ich halte dir den Hauptartikel frei. Heute Nachmittag ist im Ort eine Handwerkerausstellung. Such dir einen Künstler aus und schreib mir bis 17 Uhr ein Papier darüber, Photo inklusive«.

Ohne weitere Erklärungen widmete er sich wieder seiner Arbeit, seelenruhig, wohl wissend, dass ich noch nie einen solchen Artikel geschrieben hatte. Während die beiden Redakteure sich zur Mittagspause zurückzogen, blieb ich allein zurück und durchlöcherte das Web mit allen möglichen Varianten von »Wie schreibe ich ein gutes Portrait?«

Traditionelle Kuchenherstellung auf dem Markt

Am frühen Nachmittag ging es schließlich los. Zu meiner Erleichterung hatte der zweite Redakteur – und Photograph – im Bunde angeboten, mich zu begleiten, als mentale Stütze im Hintergrund. Trotz meiner Nervosität lief das Interview sehr gut.

Paul war Schmuckdesigner. Wir fanden sofort eine gemeinsame Basis: Er war selber genauso aufgeregt über den Artikel wie ich. Anschließend lud er uns noch auf einen Kaffee in seine Wohnung ein. Sie diente ihm ebenfalls als Atelier und war eine wahre Fundgrube an Photomotiven. Eine Unmenge verschiedener Perlenarten lagerte an allen möglichen und unmöglichen Stellen. Antiquitäten, alte venezianische Masken, dichte Teppiche und Bilder an den Wänden, fünf Diskokugeln und acht kleine, wuselnde Hunde – alles kreuz und quer! Es war das sympathischste Chaos, dass ich je gesehen habe. Paul und sein Lebensgefährte sollten mir in den drei Monaten in Frankreich sehr ans Herz wachsen.

Begeisterung beim Volksfest

Voller Motivation und mit einer Einladung zum baldigen Abendessen hüpfte ich zurück zur Redaktion. Beschwingt hieb ich in die Tasten, 70 Zeilen würden doch locker zu schaffen sein! Als der Chef mich aber 15 Minuten später zum ersten Mal fragte: »Na, fertig? Kann ich Korrektur lesen?« brach meine Zuversicht in sich zusammen. Ich hatte mir gerade erst eine grobe Struktur festgelegt und knappe zwei Zeilen zu Papier gebracht …

Zwei Stunden und siebzehn Nachfragen später lagen meine Nerven blank und der Text endlich vor den Augen des Chefredakteurs. Sein Urteil fiel milde aus, der Artikel wurde gedruckt. Wie froh war ich, dass ich „nur“ über einen lokalen Künstler – und nicht über eine Weltkatastrophe – berichten musste.

Mit dem Tuk-Tuk durch die Altstadt von Saint-Gaudens

Im Laufe der Wochen wurde das Schreiben einfacher. Ich wurde gelassener und lernte, die trockene Art meines Chefs zu schätzen. Und mehr noch: Ich begann, die Arbeit zu lieben. Mein Wunsch, über Katastrophen, Intrigen und Geheimprotokolle zu recherchieren verschwand.
Natürlich werden gute Nachrichten nicht so verschlungen wie schlechte. Sie sind nicht so reißerisch, nicht so anziehend. Aber ist es weniger bewegend, wenn jemand in der Gemeinde hundert wird, wach im Geist und fitten Körpers? Sind die Erinnerungen einer pensionierten Lehrerin oder die Begeisterung junger Schüler im Kunstprojekt weniger Wert, gelesen zu werden?

Die Dépêche ist eine der größten Tageszeitungen im südfranzösischen Raum. Zum Vergleich: Sie druckt etwas mehr als die Hälfte der Auflage der FAZ. Sie ist ein bedeutender Bestandteil des Alltags in Saint-Gaudens, besonders für die ältere Bevölkerung. Die Menschen dort lesen das Journal nicht, um allerlei Schreckliches über die Welt zu erfahren. Vielmehr gehört sie zum aktiven Leben als Gemeinschaft dazu: Sie bündelt die Neuigkeiten, Gerüchte und Veranstaltungen rund um die Region.

Die Straßentheatergruppe Royal de Luxe in Saint-Gaudens (Sommer 2012)

Wenige Tage vor dem Ende meiner Zeit in Frankreich starb eine junge Frau bei einem Autounfall, kurz vor dem Ortseingang. Die Zeitung musste natürlich auch darüber berichten, ich war für die Photos zuständig. Als wir ankamen, war das Opfer noch im völlig zerstörten Wagen. Eine Stunde lang wartete ich im beißenden Benzingeruch, bis die Feuerwehr das Auto so weit aufgebrochen hatte, dass die Leiche abtransportiert werden könnte. Erst dann schoss ich einige Bilder von dem Fahrzeug. Es war bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert.
Ich hätte viel lieber über einen weiteren Pétanquewettbewerb oder einen entlaufenen Hund geschrieben.

Gute Nachrichten locken kaum einen Verleger hervor. Sie werden keinen Pulitzer gewinnen und auch keine Veränderungen oder Empörung hervorbringen. Trotzdem bin ich sehr froh, diese Erfahrung gemacht zu haben. Das Verbreiten von Neuigkeiten sollte ein Hauptziel einer Zeitung sein. Sie darf aber nicht das Lebensgefühl ihrer Leser vergessen, sich immer wieder daran zu erinnern, dass auch Gutes berichtenswert ist. Auch hinter kleinen Nachrichten kann unerwartet Großes stecken.