Eine Dorfgemeinschaft kann vielen Stadtmenschen, Freidenkern und Einsiedlern wie die Hölle auf Erden erscheinen. Jeder kennt jeden, jeder tratscht über jeden, jeder beobachtet jeden … die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Und doch … und doch kann eine solche Gemeinschaft einen starken Reiz ausmachen. Wenn man denn reinkommt.
Panik frühmorgens im Dorf! Es treibt jemand Gesicht nach unten im neuen Dorftümpel! Der winzige Teich – zwei Mal zwei Meter höchstens – ruht mitten in der neuen kleinen Parkanlage. Und die wiederum liegt genau da, wo vor Kurzem noch die stillgelegte Müllanlage des Dorfes war. Es gibt kleine grüne Hügelchen, einen mit weißen Kies ausgestreuten Weg quer hindurch, zwei Bänke und ein Schild: „Angeln verboten!“.
Das kleine Dorf Boudrac liegt in den Vorpyrenäen. Der Dorfkern besteht aus einer Straßenkreuzung, an welcher die Häuser liegen, einer Kirche, einem Friedhof, einem Multifunktionssaal und einem Wasserturm. Und jetzt eben auch ein Park im Miniaturformat – in welchem man nach der Arbeit auf dem Feld, im Wald oder mit den Tieren gepflegt ein bisschen frische Luft genießen kann (Der Winzpark ist sogar auf Google Maps zu sehen: Hier).
Schnell gibt der aufgeregte Parkverantwortliche Entwarnung: Die Leiche ist eine aufblasbare Plastikpuppe mit Anglerhut. Der Scherz geht auf Gérards Kappe und er findet er großen Anklang – allein der einzige Parkbefürworter schmollt. Nach ein paar Schulterklopfern wenden sich alle wieder der morgendlichen Arbeit zu. Der Streich wird hingegen in die Analen des Dörfchens eingehen, zu jeder feuchtfröhlichen Gelegenheit erneut erzählt und ausgeschmückt. Nach zwei Jahren ist aus dem kleinen Streich eine Protestaktion gegen den lächerlichen Park geworden, an der alle Dorfbewohner beteiligt waren. Nur der Parkaufseher natürlich nicht.
Gérard konnte sich diese Kapriole leisten, ohne auch nur eine Sekunde über die Konsequenzen nachdenken zu müssen. Er ist Kind des Dorfes, durch und durch in Boudrac verwurzelt, akzeptiert, gemocht, angenommen. Ihm werden nahezu alle Eskapaden verziehen. Bei ihm weiß die Dorfgemeinschaft genau, wann sie die Augen besser schließen sollte. Dieses Glück hat nicht jeder in Boudrac.
Das kleine 126 Seelen Dorf beherbergt nämlich erstaunlich viele Exoten. Wer diese sind, bestimmten natürlich die Ureinwohner des Fleckchens. Der pensionierte englische Lehrer ist definitiv einer, er und seine Frau aus den Seychellen. Nach zwanzig Jahren Residenz in Boudrac darf er aber immerhin im Dorfkreis sitzen und über Politik debattieren. Doch richtig dazugehören wird er nie – zu schön und wild zugleich sein Garten, zu seniorenunangepasst sein vor Energie sprühendes Verhalten.
Der Nordfranzose ist per se schon ein Exot, so weit gereist ist er von der Nordküste her. Spätestens durch seine Heirat mit einer Amerikanerin kann er sich die Hoffnung, jemals zum inneren Kreis zu gehören, endgültig abschminken, auch nach über 15 Jahren in Boudrac.
Jacques schrammt ganz knapp am Exotenstatus vorbei. Ja – er hat eine Holländerin geheiratet, ja – er hat ihr Kind aus erster Ehe adoptiert, ja – sie trägt gerne Kleider und hochhackige Schuhe statt Schürze und Gummistiefel … aber er ist und bleibt ein Kind des Dorfes, der Stammbaum lässt sich bestimmt bis zur Sintflut im Stadtarchiv zurückverfolgen. Und immerhin bestellt er sein Land ordentlich und erzieht seine Kinder als zukünftige Landwirte.
Der Waise aber, obwohl von Kind an im Dorf aufgewachsen, wird nicht dazugehören – zu lang Zopf und Bart, zu freidenkend die Art, zu ungewiss die Eltern.
Exoten sind keine Parias, sie sind weder ausgestoßen noch ausgeschlossen – nicht wirklich. Es sind ausgesprochen feine, mehr fühl- als sichtbare Veränderungen im Verhalten der Gemeinschaft, die den Unterschied ausmachen. Es scheint, als reiche es allen, zu wissen, wer dazugehört und wer nicht. Dabei messen die Dorfbewohner zweifellos mit zweierlei Maß, doch sie lassen dies nur ganz selten spüren.
So kommt es, dass eine frisch zugewanderte deutsche Familie zum alljährlichen Dorffest eingeladen wird. Und dies in einer Region, die sich als Geburtsstätte der Résistance im Zweiten Weltkrieg schmücken darf! Von Ressentiments jedoch keine Spur: Wir dürfen mitten in das Getümmel an der großen Tafel hinein. Dort bekommen wir sofort den neuesten Tratsch und Dorfklatsch mit. Die Urgesteine Boudracs scheinen keinerlei Scheu zu haben.
Es geht offensichtlich nicht um die Zusammengehörigkeit zu einem mysteriösen Club. Allein das Wissen, das Zugezogene keine Einheimische sind, wird von den Ureinwohnern eifersüchtig verteidigt. Für uns, die damals neu dazukamen, war dieses Wissen selbstverständlich. In den meisten Fällen endete die Unterscheidung an genau dieser Stelle. So erschien uns Boudrac als ein ausgesprochen tolerantes Fleckchen Erde.
Vielleicht aber auch nicht. Es sind nämlich auch jene Landzüge, in welchen das Fremde aus politischer Sicht grundsätzlich nicht willkommen ist. Die Freiheit und Akzeptanz in diesem Fleckchen Frankreichs basieren zum Teil auf der schlichten Notwendigkeit, miteinander auszukommen. In einer der am dünnsten besiedelten Regionen des Landes ist die Auswahl an sozialen Kontakten bescheiden. In diesem Kontext gehören Arrangements zum Leben.
Man lernt schnell, über Marotten und Wunderlichkeiten hinweg zu sehen, wenn dafür ein gemütliches Abendessen in Gesellschaft lockt, oder ein hilfsbereites zweites Paar Hände beim neuesten Bauprojekt. Es ist die Freiheit der Republikaner, die gedanklich und räumlich so weit weg von der gesetzgebenden Hauptstadt wohnen, dass sie ihr eigenes, kleines Ökosystem auf die Beine stellen.