Das Spiel ohne Gedanken

Früher spielte ich ein Instrument – Gitarre. Mehrere Stunden verbrachte ich pro Woche damit, meine ungelenken Finger zu überzeugen, den Saiten die richtigen Noten zu entlocken. Mit der Zeit wurden sie geschmeidiger, kräftiger und schneller. Immer komplexere und schwierigere Stücke bewältigten sie. Oft stand ihnen nur eines im Wege: meine eigenen Gedanken.

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Für Kinder sind Hobbys zwar nicht immer eine reine Freudenquelle, aber doch nah dran. Um Transport und Finanzierung kümmern sich die Eltern – was übrig bleibt, ist im besten Falle ein wenig Anstrengung und viel Spaß. Sieben Jahre lang ging es für mich regelmäßig zur Musikschule, zum Gitarrenunterricht. Schon bald stand die Suche nach einem eigenen Instrument an.

Nach einigen fruchtlosen Versuchen hielt ich sie plötzlich in den Händen: meine Gitarre. Über mindestens fünf Ecken hatten wir von ihr erfahren: Ihr vorheriger Besitzer verlor bei einem Gartenunfall zwei Finger und gab das Gitarrenspiel auf. Sie war etwas ganz Besonderes. Sie glänzte nicht wie all die neuen Exemplare in den Musikläden. Ihr Holz trug nicht die typische orangene Färbung. Etwas kleiner als üblich schmiegte sie sich perfekt zwischen Arme und Schenkel. Ihr dunkelbrauner Körper war mit mattem Lack überzogen. Anders als ihre Hochglanzkollegen reflektierte sie Licht nicht einfach, sondern sog es auf und wandelte es in einen weichen Schimmer um. Seit ihrer Fertigung in Spanien waren bereits Jahre vergangen, sie konnte deutlich mehr Erfahrung vorweisen als ich. An die Zeit, in der sie mit viel Geduld Stück für Stück von kundigen Händen erschaffen wurde, erinnerte nur noch ein verblasster Stempel.

Nun galt es, meine Finger mit der Gitarre anzufreunden. Und es funktionierte: Nach und nach durchliefen sie die Stadien der flüchtigen Bekanntschaft, des Arbeitspartners und des guten Kumpels hin zur echten Freundschaft. Die harten Nylon- und Metallsaiten hinterließen ihre Spuren auf den Fingerkuppen: dickere Hautschichten und – nach langen Spieltagen – Rillen und Wunden. Umgekehrt polierten unzählige Wiederholungen der Grifffolgen das Griffbrett der Gitarre blitzblank. Wie es sich in einer Freundschaft gehört, beeinflussten sich Finger und Instrument gegenseitig. Nach sieben Jahren hatten sie viel voneinander gelernt und waren nicht mehr ganz dieselben, wie zu Beginn. Dann zog ich aus Frankreich weg.

Im neuen Leben ging es erst einmal um Orientierung, Studium und Selbstständigkeit. Die Gitarre hatte ich zwar im Gepäck, aber nur noch selten in den Händen. Das matte Holz wurde unter einer feinen Staubschicht stumpf. Ich schnitt die Nägel meiner rechten Hand wieder akkurat kurz, mussten sie doch keine Saiten mehr zupfen. Die mitgebrachten Partituren verstaute ich außer Reichweite ganz oben im Schrank. Ein Teil von ihnen landete nach und nach im Altpapier.

Manchmal, selten, nahm ich mir immer noch Zeit für sie. Liebevoll wischte ich jeden Staubkrümmel von ihrem Körper. Spannte die Saiten beim Stimmen nur behutsam, um dem Holz genügend Zeit zu geben, sich anzupassen. Untersuchte sie auf Verletzungen und Kratzer. Dann legten sich meine Finger ganz automatisch an die richtigen Stellen und begannen zu spielen. Geschmeidig, schnell und kraftvoll waren sie längst nicht mehr. Nach wenigen Minuten schmerzten sie. Ich brauchte Zeit, um mich wieder in die Partituren einzulesen. Musste mich damit abfinden, dass einst temporeiche und federleichte Stücke nun langsam und stockend erklangen.

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Wie alte Freunde, die sich jahrelang aus den Augen verloren haben, fanden Finger und Instrument nur zögerlich zueinander. Je stärker ich mich konzentrierte, desto mehr fremdelten beide miteinander. Erst, als eine holprig hervorgebrachte Melodie meine Gedanken in eine alte Erinnerung abschweifen ließ, funktionierte es plötzlich. Während ich mit abgelenktem Kopf spielte, kooperierten Gitarre und Finger wieder miteinander. Von mir unbemerkt wurde mein Spiel schneller, flüssiger und sicherer. Sobald ich mich bewusst den Noten widmete, ging es wieder verloren.

Unvermittelt hatte mir das Instrument eine der schwierigsten Aufgaben gestellt: Ich konnte ein schönes, sauberes Spiel nicht verfolgen und einfangen. Je verbissener ich der erstrebten Mühelosigkeit nachjagte, desto weiter entfernte sie sich. Wer schon einmal versucht hat, bewusst nicht an etwas zu denken, kennt die Schwierigkeit. Das Lied, die folgenden Griffe, die nächsten Noten nicht antizipieren? Wie sollte das gehen? Mein Kopf versuchte es mit einem Trick: Multitasking. Er zerrte ein belangloses Gedankenkonstrukt in den Vordergrund, achtete im Augenwinkel aber genau auf die Fingerfolgen. Genauso gut hätte ich versuchen können, mich an meinem eigenen Zopf aus einem Sumpf zu ziehen. Ungelenk und tollpatschig stolperten meine Finger über das Griffbrett.

Die Lösung liegt in einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Neugierde. Zu akzeptieren, dass etwas ohne Zutun meines Geistes besser läuft, ist für einen verkopften Menschen nicht leicht. Keine Ratio, keine klugen Gedanken, keine wohldurchdachten Argumente, keine zungenfertigen Antworten zwingen meine Finger in geschmeidigen Gehorsam. Sie brauchen diesen leisen Klick im Kopf, wenn dieser die Kontrolle abgibt und sich einfach an den hervorgebrachten Melodien erfreut und das scheinbar mühelose Zusammenspiel der Saiten und der Finger mit neugierigen Augen beobachtet. Erst dann wird es richtig gut.

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