Versteckspiel mit dem Wind: Nichts geht mehr

Wind bläht die Segel auf, Haarsträhnen flattern ums Gesicht, Wasser rauscht sprudelnd um das Heck des Bootes: So stellt man sich Segeln vor! Dies sind die Momente, die in sportlich-fröhlichen Fotos festgehalten werden: Das Boot liegt angriffslustig auf der Seite, die Segler hängen sich zum Ausgleich so elegant wie möglich weit heraus und vor dem Bug spritzt das Wasser funkelnd gen Himmel. Dieses Bilderbuchfoto hängt allein von einer Komponente ab: dem Wind. Aber manchmal will dieser sich einfach nicht zeigen.

Beim Segeln erlebt man viele magische Momente. Das Ausschalten des Motors ist ein ganz besonderer. Plötzlich wird es still. Das laute Dröhnen verstummt und die Ohren brauchen ein, zwei Augenblicke, um sich zu akklimatisieren und die leisen, subtileren Geräusche zu erfassen. Das sanfte Gurgeln des Wassers, das leise Pfeifen des Windes in den Wanten und das behutsame Knacken des Holzes unter den Füßen, welches sich an die neue Kräfteverteilung anpasst. Das Großsegel fängt den Wind ein, bläht sich auf und treibt das Boot immer schneller vorwärts.

So zumindest in der Idealvorstellung. An manchen Tagen spielt der Wind aber nicht mit und veranstaltet ein heimtückisches Versteckspiel: Kaum verstummt der Motor, verschwindet auch der letzte Windhauch. Das Boot – Capri – lässt sich dann noch ein paar Meter treiben und bleibt schließlich entkräftet stehen. Ihre Segel hängen wie jämmerliche Lappen in der stillen Luft. Die Wasseroberfläche scheint ölig – so regungslos ist sie. Von oben knallt die Sonne auf das Deck und treibt uns die ersten Schweißtropfen auf die Stirn. Kein Lufthauch kühlt sie ab.

Solche Situationen fordern in Seglern Reaktionen zutage, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ich kann nicht still sitzen. Meine Augen huschen von rechts nach links, von vorne nach hinten. Sehe ich dort etwa eine kleine Windböe auf dem Wasser tanzen? Schon zuppele ich hektisch an den Schoten, zerre an der Pinne und verlagere mein Gewicht von der einen Seite des Bootes zur anderen. Ins Schwanken geraten, flappen Capris Segel matt hin und her. Das Kochgeschirr klirrt und klappert in einer der Backskisten. Die Wasserflasche fällt mit einem leisen Rumms um. In der Windstille schallen die Geräusche wie Explosionen weit auf das Wasser hinaus. Schließlich verliere ich das Gleichgewicht und stoße mir das Knie an. Und dort, einige Meter von uns entfernt, kräuselt der kleine Windhauch die Oberfläche des Wassers ein letztes Mal neckend und verschwindet. Wir stehen immer noch an derselben Stelle.
Schwitzend setze ich mich wieder auf meinen Platz, reibe mein Knie und blicke um mich. Da! Ist dort hinten etwa Wind?!

Mein Mitsegler schaut sich mein Treiben reglos und missmutig an. Er knallt die Augenbrauen zusammen und starrt gleichmütig auf das stille Wasser, den Blick nach innen gekehrt. Während die Reglosigkeit des Bootes mich in nutzlosen Aktionismus treibt, zieht er sich in seine eigenen Gedanken zurück. Die brennende Sonne, die Schweißtropfen, die seinen Nacken hinunter rinnen, die ölige Oberfläche des Wassers … all dies verschwindet nach und nach aus dem Bewusstsein. Vielleicht erklimmt er gerade den Himalaya, umsegelt im Geiste das berühmt-berüchtigte Horn oder vertieft sich in das neueste tagespolitische Problem.

Mit den Tagträumen ist das so eine Sache. Als Kinder verbringen wir viel Zeit in unserem eigenen Kopf. Auf einem Ast sitzend, die Füße im Leeren baumelnd und den Kopf in den Wolken … Stundenlang gedankenversunken auf einen Flusslauf starrend… zu jeder Zeit, zu jeder Gelegenheit können Kinder mit spielerischer Leichtigkeit von der Realität in die Weiten ihrer Phantasie abtauchen.

Irgendwann ändert sich das, wenn es heißt, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, etwas zu erschaffen – nicht mehr allein zu erträumen. Die Hände werden geschäftig, der Kopf rastlos. Der Versuch, sich selbst stets einen Schritt voraus zu sein treibt das Gedankenkarussell immer weiter an. Ablenkung ersetzt wahrhaftige Ruhe, Zeit muss sinnvoll gefüllt werden. Bis man schließlich kaum noch in der Lage ist, zur Ruhe zurückzukommen und sich selbst zu genügen.

Forscher der Universität California entdeckten bei einer Studie mit Erschrecken, dass die Hälfte ihrer Probanden es keine 15 Minuten allein in ihrem Kopf aushalten. Die einfache Aufgabe, eine Viertelstunde einzeln und ohne Handy in einem Raum zu verbringen, brachte sie an ihre Grenzen. Die einzig erlaubte Ablenkung bestand darin, sich selbst Stromschläge zu verpassen. Was sie auch taten. 15 Minuten Ruhe, um sich in seinen eigenen Geist zurückzuziehen sind heutzutage oft kein Geschenk mehr, sondern eine schier unüberwindbare Aufgabe. Stromschläge (oder blaue Flecken) sind bei vielen Menschen die beliebtere Alternative.

Schließlich kommt der Wind. Nicht als sporadische Böe, die uns stets aus nächster Nähe außer Reichweite neckt, sondern als weitläufige glitzernde Linie auf dem Wasser, die uns nur langsam näher kommt. Hauchzart spüre ich den ersten Zug auf der Schot. Schon fühlen wir den ersten Windhauch auf den schweißglänzenden Gesichtern und recken uns ihm entgegen. Leise setzt sich Capri in Fahrt und nach wenigen Metern kehrt unser Lächeln zurück. Vergessen ist das aufreibende Verharren in der Windstille. Die blauen Flecken an meinen Knien werden mich aber noch eine Weile begleiten. Und daran erinnern, dass erzwungene Regungslosigkeit mit Ratslosigkeit nicht zu bekämpfen ist.

Die Flaute ist vorbei: Eine Windkante nähert sich.

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