Den Fluss hinab…

Wasser ist ein besonderes Element. Es spricht in den meisten Menschen halb vergessene Saiten an und bringt sie zum schwingen. Das Meer ist gewaltig. Erblickt man die Wassermassen nach einer langen Abwesenheit, verschlägt es einem den Atem. Abseits dieser wuchtigen Gewalt schlängelt sich der Fluss träge, aber stetig seinem Ziel entgegen.

Der Fluss lässt sich Zeit, macht Umwege und verführt seine Besucher schleichend, lässt sie gemächlich auf seinen Gewässern treiben, bis sie jeden Sinn für die verrinnenden Minuten, Stunden und Tage verlieren. Eine Reise den Havelfluss hinab.

Tipp: Dieser Text liest sich mit dieser Musik im Ohr besonders gut:

Mississippi Fred McDowell · Goin Down to the River

Zwei Wochen lagen vor uns: Mit dem Boot wollten wir aus der Stadt hinaus segeln und auf den üppigen Kurven der Havel hinaus in die Freiheit. Vorgenommen hatten wir uns nur eines: Keine Hast aufkommen lassen, keine langfristigen Pläne schmieden – einfach auf dem Wasser sein. Für einen verkopften Stadtmenschen ein schwieriges Unterfangen.

Der Deal galt ab dem Moment, in dem wir die Festmacher losmachten und das Boot ungehindert seinen Weg durch das Nass antrat. Bis dahin durfte ich also nach Herzenslust planen, Listen erstellen, Gepäckstücke packen, entpacken, neu zusammenstellen, Einkäufe erledigen und mir tausend unwahrscheinliche Szenarien ausdenken.

Doch auch die längste Planung geht zu Ende. Schließlich waren der Proviant sicher an Bord verstaut, die Segel vorbereitet und alle wichtigen Taue und Wanten überprüft. Mit leichtem Knarzen empfing das alte Holzboot den ersten Wind in seinen Segeln, legte sich gemütlich leicht auf die Seite und glitt federleicht die Havel hinab.

Noch waren wir mitten in der Stadt — das Revier vertraut, das Wasser gespickt mit anderen Booten. Doch vor uns konnten wir die leeren Flusskurven schon beinahe anfassen. Die weißen Segel trieben uns auf unserem dunkelroten Mahagoniboot stetig weiter, das leise Plätschern des Wassers in den Ohren und den frischen Wind in der Nase.

Im Stadtgebiet zu segeln erfordert permanente Aufmerksamkeit: Viele Boote drängen sich durch mitunter schmale Passagen. Der Wind ist aufgrund der bewaldeten Ufer unstet und böig. An manchen Tagen spielt er ein wahres Katz und Maus Spiel mit den Seglern und wechselt nahezu totale Windstille mit heftigen Böen ab.

Hinter Postdam aber leerte sich der breite Fluss immer mehr. Ganze Seen und Flussabschnitte gehörten uns. Schmetterlinge, Vögel, Insekten und Fische begrüßten unser kleines Holzboot. Plötzlich waren wir mitten in der Natur. Die alte Fortbewegungsmethode – das Segeln – erhält in dieser Kulisse eine besondere Qualität. Das sanfte Schaukeln der kleinen Wellen, die stete Bewegung, die Gemächlichkeit, mit welcher wir voran kamen: All dies weckte nach und nach eine uralte und gewissermaßen fundamentale Gewissheit in uns. Mensch und Wasser gehören zusammen.

Die städtische Hektik ging nur widerstrebend. Zwei, drei, vier Tage lang klammerte sie sich an uns Reisenden fest. Sie hielt dieses elektrische Spannungslevel aufrecht, welches uns mit dem Fuß wippen und viel zu oft auf die Uhr schauen ließ. Erst nach und nach übertrug sich der schleppende Gang des Flusses auf unseren inneren Rhythmus.

Leise, kaum wahrnehmbar, begannen die Saiten zu schwingen. So wie die Sonne unsere Haut verbrannte, der Geruch des Wassers bald zur Normalität wurde und unsere innere Uhr das Vorübergleiten der Tage nur noch beobachtete, ohne diese in Einheiten einteilen zu müssen, desto lauter wurde die Musik im Innern. Bei mir war es eindeutig ein urig-lässiger Mississipi-Blues.

War die Stadtnervosität erst einmal abgestreift, flossen die Tage ineinander. Umstände und Gegebenheiten änderten sich, wurden jedoch nie zu Problemen. Wenig Wind an einem Tag? Lass das Boot einfach treiben! Die Sonne ist zu heiß? Spring ins Wasser und kühle dich ab! Der Ankerplatz ist besonders schön? Bleib einfach drei, vier Tage an der Stelle! Hunger? Iss was! Müde? Schlaf! Nackte Füße baumelten über die Bordwand, lange Haare flatterten im Wind und ungezwungene Nachmittage verflogen im Nu.

Was man die ganze Zeit anstellt? Langeweile kam nicht auf: So gemächlich der Fluss auch unterwegs ist, so stetig bewegt er sich voran und sorgt so permanent für Veränderungen. Leben Menschen lange zusammen, passt sich deren Rhythmus aneinander an. Wir lebten in diesen zwei Wochen mit dem Fluss. Seine stetige Ruhe übertrug sich auf uns. Gedanken, vorab so ungreifbar wie ein Schwarm aufgeschreckter Fische ordneten sich nach und nach wie von selbst. Der beanspruchte Kopf hatte endlich genug Zeit und Ruhe, sich zu sortieren. Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Prioritäten gerade zu rücken. Den Fokus neu zu justieren.

Die Rückkehr war ein Faustschlag in die Magengrube. Die tiefen, in Schwingung geratenen Saiten wollten nicht verstummen und das Feld den schrillen Geigentönen allein überlassen. Doch die schiere Wucht der Großstadt peitscht den Rhythmus ihrer Bewohner bald wieder auf ihr bevorzugtes Level. Licht, Speed, Beton, Enge und Geräusche saugen einen blitzschnell wieder ein. Ein bisschen bleibt aber zurück. Eine kleine Portion Gelassenheit, eine tief verwurzelte Zufriedenheit und die bittersüße Anziehung des Wassers begleiteten uns noch sehr lange im Großstadtdschungel.

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