Eines Morgens ging ich aus dem Haus und sah unsere Nachbarin, die sich über eine große, weiße Plastikkiste beugte. Aus irgendeinem Grund blieb ich stehen und nahm die Szene konzentriert auf – so konzentriert eine Achtjährige dies kann. Ich wusste es noch nicht, aber ich sollte an diesem Tag ein besonderes Geschenk bekommen.
Obwohl es noch so früh war, stand die Sonne schon hoch im Himmel. Der Avocadobaum breitete kühle Schattenecken über den ansonsten heißen Beton. Unter den großen dunkelgrünen Blättern stand der weiße Behälter. Von unserer Nachbarin – Giselle – konnte ich nur den Rücken ausmachen. Sie hatte die Füße halb aus den Sandalen gezogen, ihre Sohlen berührten leicht den Boden.
Sie drehte sich zu mir um, lächelte und winkte mich mit zwei Fingern heran. In der Kiste saß, ganz in der Ecke, ein kleines und überaus verängstigtes Küken. In der Nacht hatte der Fuchs seine Geschwister und Mutter geholt. Vorsichtig hob Giselle das Kleine aus seinem Käfig und drückte es mir in die Hände: „Ich habe keine Zeit, mich darum zu kümmern. Nimm ihn, wenn du willst“. Mit großen Augen schaute ich von ihrem lächelnden, vertrauten und geliebten Gesicht zu dem kleinen gelben Wattebausch in meiner Hand. Ihn behalten?
Das Küken zitterte leicht. Seine Beinchen waren dünn und zerbrechlich, auf dem Kopf zeichnete sich bereits der Ansatz eines Kammes ab. Natürlich wollte ich ihn behalten! Ich sandte ein strahlendes Lächeln zu Giselle und lief vorsichtig zurück zum Haus. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie sie mir etwas traurig hinterher schaute. Sie wusste, dass die Chancen für den kleinen Piepmatz nicht gut standen.
Aber der einzige Überlebende der Fuchsattacke kämpfte sich durch. Er wuchs und folgte mir eine Zeitlang auf Schritt und Tritt. Nach einiger Zeit hatte er sich zu einem kleinen, aber drahtigen Hahn gemausert. Ich war die dicken, großen Hühner vom Festland gewohnt, und er kam mir immer noch vor wie eine halbe Portion. Es zeigte sich schnell, dass er alles andere als schmächtig war.
Eines Nachmittags hörten wir von draußen laute Schreie. Der Hahn hatte den Nachbarsjungen angegriffen. Er war im direkt ins Gesicht gesprungen und krallte sich dort fest. Zum Glück passierte außer einem Kratzer auf der Wange nichts Schlimmes. Jetzt erst fiel uns auf, wie aufrecht und selbstbewusst das Tier immer durch die Gegend schritt, wie aggressiv taxierend er jedes Lebewesen musterte und wie lang seine Sporne waren – viel länger, als wir es kannten.
Da dämmerte uns langsam, dass wir offenbar einen Kampfhahn herangezogen hatten. Der Kleine hatte sich im Laufe der Wochen zu einem halbstarken Teenager-Hahn entwickelt, der seine Kräfte austesten wollte. Und wie er testete: Er schlug erwachsene Männer in die Flucht. Sein Selbstvertrauen wuchs ins Unermessliche. Wir konnten ihn nicht mehr kontrollieren und meine Mutter machte kurzen Prozess mit ihm. Diesen letzten Kampf verlor er.
In Frankreich sind Hahnenkämpfe grundsätzlich wegen Tierquälerei verboten. Allerdings gilt für La Réunion eine Ausnahme, da er dort so tief in der Kultur verankert ist. Es gibt auf der Insel fünf offizielle Kampfarenen – neue dürfen seit 2015 nicht mehr gebaut werden. In diesem Kontext fördern Hühnerzüchter besonders aggressive Hühner und nutzen diese vermehrt zur Zucht. So kam ein achtjähriges Mädchen zu einem streitlustigen Kampfhahn. Ich selbst besuchte niemals einen Hahnenkampf.
Die Erinnerungen an La Réunion gehören einem sieben- bis neunjährigen Kind. Namen verschwinden langsam aus dem Gedächtnis, Ereignisse verschwimmen ineinander. Ob sich die Geschichten genauso zugetragen haben, ist nach so vielen Jahren nicht gesichert.