Eine lange Sommernacht

Berliner Sommernächte sind warm, lang und verlaufen oft unerwartet. In der samtigen Dunkelheit kann sich in einer einzigen Nacht die ganze Bandbreite des Lebens abspielen. Eine Geschichte in vier Kapiteln.

1.

Die Freundinnen schlendern Arm in Arm durch die Straße. Beide sind müde und nach einem Barbesuch leicht angetrunken. Sie laufen an einer einsamen Laterne vorbei und erreichen einen schäbigen Vorgarten. Das kleine Naturreich macht nicht viel her. Kaum Gras bedeckt den Boden. Einige wenige Blumen ragen aus der nackten Erde. Matt vor Hitze und doch rührend in ihrer trotzigen Schönheit. Die Freundinnen zögern den Abschied hinaus, bleiben stehen. Den ganzen Abend haben sie zusammen verbracht. Erst jetzt, in der Stille des Vorgartens, wird ihre Freundschaft wieder zwanglos und unbefangen. Geheimnisse austauschen. Verletzlichkeit zeigen. Die Freundinnen genießen ihre Verbundenheit und reden, reden, reden.

Ihre Stimmen schweben durch ein offenes Fenster. In dem Bett direkt dahinter wird der schlafende Mann unruhig. Kleine Bewusstseinsfragmente durchbrechen seine Träume. Er wälzt sich, murmelt und wacht schließlich auf. Mürrisch bemerkt er das Gespräch der Freundinnen vor seinem Fenster. Ein Blick auf den Wecker verrät: Es ist ein Uhr in der Frühe – die Berliner Nacht hat gerade erst begonnen.

Die Freundinnen verabschieden sich. Sie werfen einen letzten Blick auf die mickrigen, aber kämpferischen Blumen, verschwinden getrennt in die warme Sommernacht. Sie fühlen sich leicht, von ihrer Freundschaft erfüllt. Der Mann schließt die Augen und tastet blind nach der Gestalt auf der anderen Seite des Bettes. Streicht kurz über warme, vertraute Haut, schläft wieder ein.

2.

Das Telefon an seinem Ohr bedeutet ihm die Welt. Der junge Mann mit Tränen in den Augen läuft nicht über Gehweg, er schlürft. Die schräge, krumme Birke am Rande des Vorgartens verdeckt das Licht der Straßenlaternen, wirft einen schwarzen Schatten auf den Hauseingang. Von der Dunkelheit angezogen durchquert der traurige Mann die Straße. Er setzt sich im tiefsten Schatten auf das Kopfsteinpflaster. Er bemerkt weder das Spiel der Blätter im Wind, noch die ferne Polizeisirene. Seine ganzen Sinne konzentrieren sich auf die Stimmen am anderen Ende des Telefons. Sie gehören seiner Familie. Seit Monaten hat er seine Frau und seine Tochter nicht mehr gesehen. Bis er sie wieder in die Arme schließen kann, werden viele weitere Monate vergehen.

Tränen zeichnen glitzernde Spuren auf seinen Wangenknochen. Er beachtet sie nicht. Morgen, weiß er, wird er wieder stark und selbstbewusst auftreten. Doch für einen kurzen Moment, im Schatten der Birke, lässt er seine Tränen laufen. Wischt sie nicht weg. Seine Stimme presst sich mühsam durch seine zusammengeschnürte Kehle, als er seiner Tochter durch das Telefon ein Schlaflied singt. Er trifft kaum einen Ton. Das traurigste Lied der Welt schlängelt sich durch das geöffnete Fenster bis zu dem schlafenden Mann. Zieht ihn erneut aus seinem Traum. Mit offenen Augen starrt er an die Decke und lauscht in den Vorgarten. Hört, wie der Gesang endet und ein langes Gespräch folgt. Kurz beugt er sich zur anderen Seite des Bettes. Riecht den vertrauten Geruch – eine einmalige Mischung aus Kokosnuss, Shampoo und dieser einen, unverkennbaren Note. Er genießt die Intimität, die Nähe. Murmelt zwei liebevolle Worte in schlafende Ohren, die ihn nur im Traum hören.

Es ist halb drei, als der junge Mann aus dem Schatten tritt und seiner Wege zieht. Er fühlt sich ungewöhnlich erleichtert. Fast ein bisschen hoffnungsvoll. Auf der anderen Seite des Fensters kehrt der Schlaf zurück.

3.

Man hört sie von Weitem. Immer lauter werden die Stimmen des streitenden Pärchens. Kurze, wütende Ausrufe schießen wie Pfeile zwischen den Beiden hin und her. Sie biegen in die Straße ein, vor dem Vorgarten bleiben sie stehen. Vor dem windschiefen Zaun, der ihn notdürftig von der Straße abgrenzt. Rostige Zacken verbieten auch nur den Versuch, sich anzulehnen. Dahinter klammert sich ein nadelloses Tannengewächs an die wenigen Kubikmeter harte Erde. Um seine kargen Äste windet sich eine einzelne, längst erloschene Leuchtkette. Ein Überbleibsel aus der Weihnachtszeit. Im Streit vertieft, sieht das Pärchen nichts davon. Verletzt und wütend versuchen beide immer lauter, die Überhand zu gewinnen. Auf Wort folgt Anschuldigung, folgt Angriff, folgt Rechtfertigung, folgt Beleidigung.

Hinter dem Fenster schreckt der Mann aus dem Schlaf. Ein Feuerwerk an Vorwürfen, Angriffen und Unverständnis hat ihn aus seinem Traum gerissen. Es ist drei Uhr morgens, der Mann ist müde und verärgert. Steht kurz davor, den Streitenden seinen Unmut hinaus zu blaffen. Mürrisch blickt er zur anderen Seite des Bettes, wo der Schlaf noch ununterbrochen herrscht. Seine Verärgerung wächst – von Wegen geteiltes Leid! Erinnerungen werden wach. Erinnerungen an all die Momente, in denen er auf die dort Schlafende ebenso wütend wie das zankende Pärchen war. Viele Momente, viele unschöne Erinnerungen. Dann hört er die sanften und gleichmäßigen Atemzüge neben sich, lässt sich schließlich davon beruhigen. Schließt die Augen. Die hereinflutenden Stimmen verändern sich. Sie werden allmählich leiser, verständnisvoller. Auf Beleidigung folgt Entschuldigung, folgt Reue, folgt Verständnis und aus dem Streit wird wieder ein Gespräch. Zwei Paar Schritte entfernen sich, der Mann sinkt zurück in den Schlaf. Auf dem rostigen Zaun glitzern einige Tränen, wie Regentropfen nach einem kurzen, heftigen Gewitter.

4.

Hand in Hand kommen sie näher. Alle drei Schritte bleiben sie stehen, schauen sich tief in die Augen und küssen sich. Schon seit dem frühen Abend laufen die Verliebten durch die warme Berliner Nacht. Die Stunden vergehen so schnell wie Minuten. Sie erreichen den Vorgarten, bleiben wieder stehen, bemerken einen Vogel in der Birke. Der große Hauseingang wird durch zwei mächtige, hölzerne Tore bewacht. Die Verliebten pressen sich an einen der grünen Türflügel, ineinander verschlungen. Für einen langen Augenblick verschwindet der Rest der Welt. Nichts zählt, außer sie beide.

Sie geben kaum einen Ton von sich. Trotzdem regt sich der Mann. Er weiß nicht, was ihn geweckt hat. Von der anderen Seite des Bettes schauen ihn zwei schlaftrunkene Augen an. Er beobachtet, wie sich langsam kleine Fältchen darum bilden, liebkost das Lächeln im vertrauten Gesicht. Er nähert sich langsam, bis beide Stirn an Stirn liegen. Den Atem des Anderen einatmen. Und die Augen wieder schließen.

Es ist vier Uhr. Die Verliebten sind weitergezogen. Vor dem Fenster heißt der Vogel in der Birke die aufkommende Dämmerung mit Begeisterung willkommen. Doch der Mann hört im Bett ihn nicht. Er schläft, tief und fest.

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