Jahrestag: Von Diven und Espressi

Vor einem Jahr trat eine funkelnde, schillernde Persönlichkeit in mein Leben, ohne die ich morgens nicht mehr aufwachen möchte. Sie ist nicht sonderlich nett, recht hochmütig und sehr auf Aufmerksamkeit bedacht. Eigentlich mag ich geradlinige, offene Charaktere. Sie hingegen kokettiert, spielt Spielchen, verzeiht wenig und schmollt gern. Unsere Riviera ist eine echte, italienische Diva adligen Geblüts.

Meine ersten Gedanken und Handlungen am Morgen gelten ihr – zumindest am Wochenende. Sie lässt sich nämlich nicht eilen: Sie braucht ihre zwanzig Minuten, um sich frisch zu machen. Da hilft kein Betteln und kein Drängeln. Quälend langsam klettert der Zeiger des Manometers, Atü für Atü, der Perfektion entgegen. Leise zischelnd und brodelnd steht sie schließlich da, offenbar bereit, der Druck ist stabil, die Lampen auf Bereitschaft.
Wer sich mit Diven auskennt, schmunzelt und weiß genau: Es ist ein Trick. Ein kurzes Öffnen der Dampfdüse und schon stürzt der Zeiger im freien Fall auf Null zurück, nur um dort seinen sisyphoshaften Aufstieg erneut zu beginnen. Noch einmal zehn Minuten später ist sie endlich bereit.

Die nächsten Schritte wiegen einen in trügerischer Sicherheit: Spülen, Wasser in den Brühkopf drücken, Espresso herauspressen – alles funktioniert reibungslos. Fast am Ziel angekommen, fehlt nur noch die geschäumte Milch. In den ersten Sekunden ist alles perfekt: Der kräftige Dampfstrahl wirbelt die Milch auf, schaufelt Luft unter und erwärmt sie zugleich. Dann: Fump! Nichts mehr. Kein Dampf, kein Wirbeln. Ein jämmerliches Röcheln entschlüpft der Düse: Sie ist verstopft.

Auf diesem Weg teilt Donna Riviera mit, dass sie sich vernachlässigt fühlt. Ihr Inneres verkalkt langsam, sie möchte Aufmerksamkeit, geputzt werden, bis sie wieder glänzt. Es hilft kein Murren und kein Bitten, es ist egal, ob die letzte Reinigung nur Tage zurück liegt. Notdürftig wird die Düse entstopft, die fertig aufgeschäumte Milch über den nunmehr kalten Espresso gekippt und das Entkalkungsmittel seufzend bereit gestellt.

Wieso man sich das alles antut? Für einen simplen Kaffee? Das lässt sich kaum in Worten beschreiben.
Ein Wunderwerk italienischer Handwerkskunst steht auf der Fensterbank, über die Jahrzehnte verbessert und verfeinert. Schlichtes Design, kaum ein Hauch Plastik am wohlgeformten Leib, keine Elektronik, kein Hightech – pure, reine Mechanik. Doch so schön all dies auch sein mag, das ist es nicht, was sie ausmacht. Diesen Maschinen haucht ihre Tätigkeit das Leben ein.

Morgens geschieht ein kleines Wunder, jeden Tag aufs Neue. Die Zubereitung des Kaffees wird zu einem Ritual, zu einer kleinen Zeremonie, der ein ganz besonderer Zauber innewohnt.
Es beginnt mit hinhören und betasten, die Hand an ihrem Körper fühlend, wie das eiskalte Metall sich langsam erwärmt, ihr Zischeln im Ohr. Die Ungeduld und Vorfreude während der Wartezeit. Wenn sie dann zum zweiten Mal Druck aufbaut, klingt sie ganz anders, kein Zischen oder gar Fauchen mehr, nur noch ein sanftes, zufriedenes Blubbern.

Dann die Entscheidung: Welchen Mahlgrad braucht sie heute? Das hängt vom Wetter, von der Luftfeuchtigkeit, von der Frische der Bohnen, vom Luftdruck ab – und von ihrer Tageslaune (auch wenn das in keiner Gebrauchsanleitung steht).
Das Aroma frisch gemahlener Bohnen füllt die Wohnung … der Espresso schießt cremig und verheißungsvoll aus dem Filter … der feine, dichte Milchschaum zeichnet ein elegantes Muster in Beige und Mokka …

Einen solchen Kaffee stürzt man nicht hastig zwischen Tür und Angel herunter. Man lernt, ihn zu genießen. Setzt sich hin, wickelt seine Finger vorsichtig um die warme – nicht heiße! – Tasse und nippt genüsslich an der bitter-nussigen Flüssigkeit. So tastet man sich behutsam in den Tag hinein.

Manche Rituale wirken in der heutigen Zeit so deplatziert wie gestärkte Leinenbetttücher, hohe Zylinder oder weiß gepuderte Perücken. In einem Zeitalter, in welchem die morgendliche Kaffeetasse auf die Minute genau am Vorabend programmiert werden kann, in welchem jede Sekunde im Kopf zweimal umgedreht wird, bevor sie ausgegeben wird, grenzt eine 30-minütige Vorbereitung für einen simplen Cappuccino an Wahnsinn.

Genau deshalb genieße und liebe ich die Riviera doppelt und dreifach. Mit ihrer würdevollen Sturheit erinnert sie jeden Samstag- und Sonntagmorgen daran, dass wahrhaft schöne Dinge ihre Zeit brauchen. Sie lässt sich nicht hetzen, sie nimmt sich so viel Zeit wie nötig.
Vorfreudige Ungeduld verwandelt sich in ein Innehalten, das Innehalten zur Ruhe. Und plötzlich stelle ich fest, dass die Minuten und Sekunden nicht mehr einfach vorbei rasen: Sie tröpfeln sanft und regelmäßig von dannen, ganz ohne Hast.

Jedem, der sich gestresst, gehetzt oder vom Leben überholt fühlt, gilt daher die ehrliche Empfehlung, den Tag mit einem gepflegten italienischen Zwiegespräch und einem heißen Espresso zu beginnen – vielleicht auch mit einem Hauch Milchschaum.