Ein Ricard nach der Messe

Mariä Himmelfahrt ist in Frankreich ein Feiertag. Zum 15. August jeden Jahres öffnen die kleinen Kirchen im Süden Frankreichs ihre Türen und laden zum Gottesdienst ein.

Ich bin nicht gläubig – zehn Jahre auf einem katholischen Internat haben mich gegen die Kirche geimpft. Dennoch erkenne ich die starke soziale und verbindende Funktion der sonntäglichen Messen auf dem Lande. Sie dienen nur oberflächlich der Anbetung eines Gottes. Sie sind Treffpunkt, ermöglichen den Austausch und die Pflege von Kontakten. Das zeigt sich ganz besonders an Feiertagen.

Am 15. August letzten Jahres arbeitete ich in der Redaktion der Dépêche du Midi. Kurz vor elf Uhr morgens fuhren wir zu einer Kapelle, um ein Photo für die Zeitung zu schießen. Das kleine Steingebäude versteckte sich auf dem Gipfel eines Hügels unter einer riesigen Eiche. Erstaunlich viele Autos säumten den letzten Abschnitt der Zufahrtsstraße – einen Feldweg -, der Andrang war enorm. Noch lief der Gottesdienst in vollen Zügen, doch ein paar fleißige Mitarbeiter richteten unter dem alten Baum bereits alles für den Apéro her.

Die Atmosphäre glich dem Klischee eines kitschigen Hollywoodfilmes: Goldenes Licht, Bienengesumm, weißgedeckte Tafeln im Schatten der ausladenden Eiche, deren Zweige im Wind leicht raschelten. Im Rücken, die verwitterten Steine der Kapelle, nach vorne, die grandiose Sicht auf das sommerliche Land.

Als die Messenbesucher schließlich aus dem Gebäude strömten, ging keiner zu seinem Auto. Nicht vor dem Genuss eines ordentlichen Apéros. Pastis für die Männer, Crème de Cassis für die Frauen, Grenadine für Kinder. Der Kontrast – Alkohol nach dem Gottesdienst – schien keinem aufzufallen. Selbst mein Kollege hob nur erstaunt die Brauen, als ich ihn fragte, ob dies nicht ein Widerspruch sei.
Ist es nicht.

Der Apéro ist ein Stück Lebensart. Wie bei der Kirche liegt der Fokus nicht im Offensichtlichem. Der Alkohol spielt eine zweitrangige Rolle. Auch hier geht es in erster Linie um Begegnung, um die Zelebrierung eines schönen Momentes in Gesellschaft. Die Hände sind beschäftigt, man steht nicht einfach in der Gegend herum und, das Wichtigste: Es gibt einen guten Grund noch eine Weile zu bleiben. Kirche und Apéro können Hand in Hand gehen, sie dienen demselben Sinn.

Es kann für Außenstehende schwer zu verstehen sein, wie weich die Regeln des gesellschaftlichen Umgangs in Frankreich sein können. Oft sind die verschiedensten Anlässe einfach eine gute Gelegenheit um eine Pause unter Freunden zu machen, ein kurzes (oder längeres) Innehalten, bevor das Leben weiter geht. Ob das nun eine ausgiebige Mittagspause ist, ein ausgedehnter Kaffee unter Kollegen während der Arbeit oder eben ein Apéro nach der Messe.
In welchen Situationen solche Momente entstehen können, entscheidet ein loses Netz unausgesprochener Maßstäbe.

Gesellschaftliche Normen sind für das Zusammenleben in der Gemeinschaft unerlässlich. In Deutschland, so scheint mir, sind diese Regeln meist klar definiert. Man weiß, was man tut und was nicht.
In Frankreich kommen mir die Übergänge fließender vor. Ein grober Rahmen steckt die Grenzen ab, die man eigentlich nicht überschreitet. Der Raum dazwischen ist groß und wird von lockeren Codices durchzogen. Da es sich dabei nicht um in Beton gegossene Regeln handelt, kann man sie nicht wirklich verletzen. Gefragt ist deshalb ein tänzerischer Umgang mit den Konventionen. Bietet beispielsweise der Gastgeber nach einem langen Essen noch einen Kaffee an, kann das eine Bitte ausdrücken, sich nach dem Getränk zu verabschieden. Es könnte aber auch bedeuten, dass er einfach gerne einen Kaffee trinken würde. Es ist Aufgabe des Gastes zu erspüren, welche Variante gefragt ist. Das kann er aus der Mimik, der Gestik oder dem Tonfall lesen. Ist man aber nicht in der Lage, ein Gespür für die Situation zu entwickeln, gilt man unter Umständen als Tölpel.

Wozu das Ganze, könnte man sich fragen. Was sollen komplizierte, schwammige Konstrukte, wo fest installierte Regeln regieren könnten? Was haben sie, was stabile Normen nicht haben?

Sie geben schlicht und einfach Freiraum, sie erlauben das Spiel. Weiche Konventionen ermöglichen einen respektvollen Umgang, indem sie einem Rückzug gewähren, ohne das Gesicht zu verlieren. Der Pragmatiker mag darüber den Kopf schütteln: Faktisch macht es keinen Unterschied, ob ein Kaffee angeboten wird oder die Worte „ich möchte, dass Du jetzt gehst“ ausgesprochen werden. Es fühlt sich aber anders an.

Die direkte verbale Aufforderung lässt keinen Spielraum: Mann kann sich nur bedanken und gehen. Fertig. Oder man trinkt in Ruhe einen Kaffee und bietet schließlich von selber an, nun zu gehen. Beide wissen, dass der Gastgeber eigentlich die Situation lenkt. Trotzdem haben beide das Gefühl, die Zügel in der Hand zu haben: Es kommt auf das Quentchen Entscheidungsmöglichkeit an, das biegsame Regeln offen lassen. Es wäre grob unhöflich, nach einer ausgesprochenen Aufforderung nicht zu gehen. Bleibt man jedoch nach dem Kaffee weiterhin im Stuhl sitzen, begeht man lediglich einen Fauxpas. Der Gastgeber kann dann deutlicher zeigen, dass er gerne alleine wäre.

Unter der alten Eiche gluckerten muntere Gespräche, als der Père aus der Kirche kam. Er schüttelte ein paar Hände, ließ hier und da ein nettes Wort fallen, bevor er zu einem Glas Pastis griff. Sofort vertiefte er sich in zwanglose Plaudereien. Auch das ist eine unausgesprochene Regel: Für die Dauer eines Apéros darf er seine Rolle als Menschenhirte vergessen und einfach nur Mensch sein.

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