Pastell statt Schwarzweiß – von zu hohen Erwartungen

Ist man in Frankreich aufgewachsen und war noch nie in Paris, wird man hierzulande durchaus mal schief angesehen. Neben der Côte d‘Azur ist die französische Hauptstadt der Inbegriff all dessen, was man in Deutschland mit dem Begriff „Frankreich“ verbindet: Kunst im Louvre, Kultur in den Cafés, Mode auf den Straßen, Baguette an der Seine und eine ordentliche Prise Unfreundlichkeit der Eingeborenen.

Wie kann man bloß aus Frankreich kommen und das alles nicht kennen? Zum Glück konnte ich letzten September diesen Makel auf meiner Vita beseitigen: Ich fuhr nach Paris.

Nur waren meine Erwartungen an die Stadt etwas anders gelagert, nicht geprägt von einer deutschen Ansicht, sondern von der Haltung der Province. Was die Province ist? Ganz einfach: der ganze Rest von Frankreich, jener Teil, der nicht Paris ist.

Die Abgrenzung zwischen Paris und Provinz ist sehr stark. Sie erlaubt es allen Franzosen gleichermaßen zu lästern – die Pariser über die ungehobelten Bauern rund um ihre Festung, dieser Insel der Zivilisation, alle Anderen über die mondänen Snobs in ihrem abgehobenen Raumschiff unter dem Eiffelturm.

Zu allem Übel wuchs ich auch noch im tiefsten Süden Frankreichs auf, weiter südlich wäre spanisch gewesen. In einer Region also, die sicher nicht für ihre Treue zu „denen da oben“ bekannt ist. Die Regierung und Paris sind von dort unten aus in jedem Sinn weit, weit weg. In einem solchen Umfeld hat der Wunsch, in die Hauptstadt zu fahren, wenig fruchtbaren Boden sich zu entfalten. So ist es wohl bezeichnend, dass ich erst nach fünf Jahren Exil aus dem Süden den Weg nach Paris fand.

Meine romantische Seite wollte eine Stadt in Schwarzweiß sehen. Ich kannte die Stadt nur aus grimmigen Erzählungen einiger Hasardeure, die sich aus dem tiefen Süden auf den Weg gemacht hatten, und heilfroh wieder auf heimischen Boden zurückkehrten.

Und natürlich auch aus der Literatur. Victor Hugo, Émile Zola und so viele andere französische Größen beschreiben Paris in unzähligen Werken.

Sie schildern eine graue, düstere, in Nebel gehüllte Festung, in der man entweder gewinnt oder untergeht. Verlorene, von Laternenschein zu Laternenschein irrende Dichter. Melancholie, Hoffnungslosigkeit, Kälte, Feuchte, Dreck – und dazwischen die wärmenden Farbtupfen der Bohème, die Flamme des Intellekts schürend.

Genau dieses Paris wollte ich sehen. Eine Zeitreise machen und die Tristesse erfahren, die subversive, bunt kontrastierende Kraft des Untergrunds ertasten.

Die Zugfahrt von Saint Denis in die Hauptstadt hinein verlief vielversprechend. Der Geruch von Niederschlagenheit, Aufgabe und ausgeträumten Hoffnungen lag in der Luft, während der Zug durch die Banlieues rauschte. Ein modern aufgeführtes Les Misérables. Doch dann, der Schock.

Farben! Zart pastellfarben die alten Sandsteingebäude. Blinkendes Neonlicht am Moulin-Rouge. Funkelnde Schaufenster, tiefrot die Marquisen der Cafés.

Menschen! Gelächter in den Straßen. Fröhliche Unbeschwertheit bei den Spaziergängern. Freundliche Bedienungen. Zu allem Überfluss brach auch noch die Sonne durch die trüben Wolken. Düsternis? Zerrissenheit? Unbarmherzigkeit? Fehlanzeige, stattdessen zwitschernde Spatzen, ausgelassene Gespräche in den Bistros und heitere Lockerheit – da hätte ich ja auch gleich in Berlin bleiben können!

Erst eine nächtliche Bootsfahrt auf der Seine versöhnte mich wieder mit der Stadt. Aus der Distanz, abseits des Lärmes des Geschehens, öffneten sich meine Augen wieder für die grandiose Kulisse. Auch wenn sie sich beim Anblick des disneymäßig grellbunt blinkenden Eiffelturmes kurz vor Fassungslosigkeit weiteten. (Bilder hierzu müssen ergoogelt werden: Mein Finger weigerte sich bei diesem Motiv den Auslöser zu drücken).

Im Schatten der Nacht gewann Notre Dame an Wucht, Gewichtigkeit und Bedrohlichkeit. Plötzlich war sie wieder das Gebäude, auf welchem fratzenhafte Gargoyles herumkletterten, um Quasimodo Gesellschaft zu leisten. Das satte Grün der Seine wurde zu undurchdringlichem, tiefem Schwarz – die Tiefen unter einer trügerisch funkelnden Oberfläche verborgen. Das goldene Licht vereinzelter Straßenlaternen verstärkte den Kontrast noch.

Erst als ich diese winzigen Spuren meiner Erwartungen in der Realität wiederfand, konnte ich die Stadt genießen.

Erzählen kann ich das zuhause im Süden aber niemanden. Gewisse Ordnungen zu durchbrechen überlässt man lieber einem Kopernikus.