Poetry Night in Damaskus

Der alte Mann hatte eine tiefe, rauhe Stimme. Bereits seit einer Viertelstunde redete er ohne Unterbrechung. Sanft modulierte er seinen Tonfall, jedes einzelne Wort behandelte er wie eine Kostbarkeit. Versunken hörte ich ihm mit geschlossenen Augen zu. Ich verstand kein einziges Wort. Der alte Mann sprach arabisch, in der weichen, singenden Aussprache der Damaszener. Es war Montagabend: Poetry Night.

Es ist eine traurige Aufgabe, von der Poetry Night zu erzählen. Diesen Bericht kann es nur in Vergangenheitsform geben. Seit 2008 fand das Treffen ein Mal pro Woche im Keller eines ehemaligen Nobelhotels statt. Der Kurde Lukman Derky hat sie ins Leben gerufen. Er ist eine der Säulen der syrischen Kunstszene – Autor, Poet, Moderator, Theaterschauspieler und Journalist zugleich. Die Poetry Night war eine einzigartige Einrichtung: Direkt vor den Augen des Geheimdienstes versammelten sich Künstler, Zuschauer, ausgewählte Touristen und Geschäftsmänner, um den Gedichten, Kurzgeschichten und der Musik zu lauschen.

Es durfte dort kritisiert werden, mehr als auf offener Straße. Doch man kannte die Grenzen. Man wusste, dass keiner dieser Abende unbeobachtet blieb. Und so schimpfte man auf den Rest der Welt, die USA, den Westen. Scherze über das eigene System blieben klein und harmlos. So klein und so harmlos, dass ich mich über das explodierende Gelächter der Zuschauer wunderte. Doch so funktionierte die Geheimsprache des Poetry Clubs: Indirekte Andeutungen, feine Witze, bloß nichts Direktes, bloß nichts Offensichtliches. Der kleine Kreis der Eingeweihten verstand, was gemeint war. Es war ein Katz und Maus Spiel mit der Regierung und deren Spitzeln. Der Einsatz war die eigene Sicherheit, womöglich sogar das eigene Leben. Und sie spielten jede Woche von Neuem darum.

Damaskus am Abend

An jenem Abend im Sommer 2010 sah Lukman gewohnt müde aus. Seine halblangen Haare fielen ihm in die Augen, doch konnten sie nicht die tiefen Ringe darunter verbergen. Dennoch war er der Mittelpunkt des Geschehens. Er bündelte alle Aufmerksamkeit auf sich, verteilte Wangenküsse und Witze, schüttelte Hände und hüpfte wie ein Derwisch durch den Raum, um mit jedem Einzelnen wenigstens ein paar Wörter zu wechseln. Das Publikum war gemischt: Geschäftsmänner in schicken Anzügen, Studenten und Touristen in Jeans, Frauen in hübschen, knielangen Cocktailkleidern.
Eine knappe Stunde nach offiziellem Beginn der Poetry Night griff Lukman nach dem Mikrophon für die öffentliche Begrüßung. Immer wieder unterbrach er sich, um einige Nachzügler lauthals willkommen zu heißen.

Schließlich wich er zurück und übergab die Bühne dem ersten Erzähler, einem alten Mann. Obwohl er sich bewusst im Hintergrund hielt, zog Lukman noch immer viele Blicke auf sich. Gebannt hörte er auf die rauhe Stimme des Poeten, nickte begeistert, verzog das Gesicht, sprang immer wieder kurz auf, konnte nicht lange still sitzen. Er war die verkörperte Choreographie der vorgetragenen Erzählungen.

Mein Arabisch beschränkt sich auf Marhaba (Guten Tag), jameel (schön), shukran (danke) und zwei, drei Schimpfwörtern. Kurzum, ich verstand kein einziges Wort. Doch das war kein Hindernis – Emotionen brauchen keine Sprache, die Geschichten von Liebe, Verlust oder Freundschaft sind überall gleich.
Die Erzähler variierten Tonfall, Mimik, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit. Die Zuschauer lächelten, seufzten oder lachten. Man brauchte nur die Augen zu schließen, um sich von den wechselnden Stimmungen im Raum erfassen zu lassen.

Immer wieder schossen Einwürfe, Kommentare, Witze oder kritische Bemerkungen den Poeten entgegen. Die Künstler genossen dieses Spiel des lebendigen Austausches sichtlich und hatten oft eine passende, pfiffige Antwort auf den Lippen. Manch Anderer stieß jedoch an seine Grenzen und las nach einer kurzen Pause einfach weiter vor. Doch nie kippte die Situation ins Unangenehme, die dynamische, offene Stimmung war eine der schönsten Besonderheiten der Poetry Night.

Gegen Ende des Abends richtete sich der Scheinwerfer auf eine Gruppe im Publikum. Iraker, ins Nachbarland Syrien geflüchtet vor dem tödlichen und unberechenbaren Chaos in ihrem Land. Ein Mann mit schmalem Gesicht und akkurat rasierten Bart zupfte behutsam an den zwölf Saiten eines gitarrenähnlichen Instruments: der Aoud. Er entlockte ihr melancholische Klänge. Und dann setzte der Gesang ein. Der erste Ton, den der beleibte Sänger herauspresste, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Mehr Schrei als Gesang beschrieb er Trauer, Wut und übergroßen Schmerz. „Bagdad“, sang er, „Bagdad! Ich habe Dein Gesicht vergessen, ich weiß nicht mehr, wie du aussiehst“. In den Augen der Zuschauer, ob Iraker oder Syrer, sammelten sich Tränen, Hände wurden demonstrativ an die Herzen gepresst. Eine kleine Gruppe Männer drehte sich langsam tanzend in der Mitte des Raumes. Die offen zur Schau gestellten Emotionen erzeugten eine ungewohnte, zutiefst lebendige Stimmung. Einfach, simpel und dennoch tief und echt.

Kein Jahr später wanderte ich an einem Montagabend durch die Straßen von Damaskus, auf der Suche nach der Poetry Night. Ich fand das Hotel – der Keller war leer, verlassen. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass die Veranstaltung öfter Räumlichkeiten und Treffzeitpunkte hatte wechseln müssen. Sie fand nun am Donnerstag statt, einstweilen wieder im Klubraum des Hotels. Zwei Tage später betrat ich erneut den Poetry Club.

Sie waren alle noch da: Lukman, die bekannten Poeten, die Geschäftsmänner in Anzügen … deutlich weniger Touristen jedoch, weniger Frauen in Abendkleidern. Und schon nach einigen Augenblicken fühlte ich den Unterschied: Die Atmosphäre war fieberhaft, geradezu zum Zerreißen angespannt. Eine elektrische Wolke schien zwischen all den Menschen dort zu knistern. Die Stimmen waren peitschender, die Gedichte wütender und die Gesichter verkniffener.

Seit einiger Zeit hatte sich die Lage in Syrien zugespitzt, die Demonstrationen hatten Damaskus erreicht. Wenige Tage später schloss die Poetry Night ihre Pforten. Die meisten ihrer Akteure flüchteten in die Türkei, in den Libanon, nach Dubai oder sogar in den Irak – trotz des dortigen Bürgerkrieges. Aber einige sind geblieben, in Damaskus, in Syrien.