Mittsommer in der Gascogne

Trolle, Feen und Elfen bleiben Schweden und Island überlassen. Aber auch die Gascogne hält am Mittsommer einige Überraschungen bereit. Ich muss 14 oder 15 gewesen sein, als ich das erste Mal zum Sommerfest am 21. Juni bei Denis eingeladen wurde.

Denis war ein junger Mittfünfziger, er wohnte weit außerhalb auf dem Land und besaß ein riesiges Grundstück mit Wiesen, Wald und drei kleinen Bächen. Sein Zuhause war eine Art Rückzugsort und Auffangbecken für viele Menschen aus der Gegend, die aus verschiedenen Gründen nicht vollständig in die Mainstreamgesellschaft passten.

Es war schon dunkel, als ich mich auf den Weg machte. Der letzte Streckenabschnitt zu seinem kleinen Haus – ein Feldweg – führte durch eine stockfinstere Eichenallee. Die dichten Zweige ließen das Mondlicht nicht hindurchschimmern. Nach einigen Minuten konnte ich in der Ferne ein flackerndes Licht erkennen.

Als ich näher kam, sah ich die Quelle: Ein riesiges Feuer brannte auf der Lichtung vor dem Haus. Die Flammen reichten hoch in den schwarzen Himmel und tauchten die Umgebung in ein ruheloses Orange. Ein paar Meter entfernt garte ein Mechoui – ein ganzes Lamm am Spieß – über dunkelroten Kohlen. Es duftete verführerisch. Unter einer alten Eiche waren mehrere Tische mit Leckereien aufgebaut. Couscous, Salate, eingelegtes Gemüse und selbstgemachter Apfelmost warteten nur darauf, verzehrt zu werden. Doch noch war es nicht so weit.

Noch saßen wir im kühlen Gras um das Feuer und plauschten gemütlich. Eine kleine Gruppe Zuhörer hatte sich um Inge gescharrt. Sie erzählte von ihrer abenteuerlichen Reise – von Belgien nach Südfrankreich mit dem Wohnwagen, von zwei Mauleseln gezogen. Bei Denis war sie vor einigen Jahren aufgeschlagen. Sie hatte sich entschlossen, eine Weile zu bleiben. Sie verkaufte die Maultiere und unterrichtete an der Musikschule in der Nähe. Sie spielte Geige, Gitarre, Akkordeon, Flöte, Querflöte, Cello, Bouzouki und Mandoline.

Bald erklang der erste Geigenton, schnell von Flöte und Gitarre begleitet. Wir fingen an zu tanzen. Die alten gascognischen Tänze sind Gesellschaftstänze. Aus den wilden, beschwingten Melodien hörte man deutlich den keltischen und spanischen Einschlag heraus. Sie waren zugleich rauh, erdgebunden und fröhlich temperamentvoll. Bei den Tänzen ging es weder um genaue Schrittfolgen noch um akkurate Bewegungen, sondern um Gemeinschaftlichkeit.
Ich bin kein esoterischer Mensch. Ich glaube nicht an Schicksal, Vorbestimmung, Gaia, Leben nach dem Tod oder Regentanz. Und trotzdem beobachtete ich mich an jenem Abend als eine dieser ums Feuer hüpfenden Gestalten. Zusammen in dieser Lichtung zu tanzen war archaisch und bewegend zugleich.

Regelmäßige Festtage waren ein wichtiger Bestandteil des Lebens vor der Urbanisierung. Sie erfüllten mehrere Aufgaben.
Sie boten die Gelegenheit, die starren gesellschaftlichen Regeln für einen Abend ein wenig zu lockern. Nicht umsonst sind die Tänze so kraftvoll: Sie dienen dem Auspowern – den ganzen Frust, Stress, die Ängste und Sorgen des harten Lebens auf dem Land mit beiden Füßen in den Boden stampfend. Für die Dauer einiger Tänze konnten die Menschen ihren Kummer vergessen, bevor sie sich wieder den kranken Kindern, der schlechten Ernte oder den Ratten im Vorratsraum widmeten.

Ein ebenso wichtiger Aspekt war die Bildung und Verfestigung einer Gemeinschaft. Ein Dorf war oft auf sich allein gestellt, angewiesen auf die reibungslosen Beziehungen zwischen seinen Mitgliedern.
Der Müller musste sich darauf verlassen können, dass der Bauer ihm den Weizen lieferte. Der Bäcker musste sicher sein, dass der Müller ihm das Mehl verkaufte. Wenn nur ein Glied dieser Kette brach, gab es im Dorf kein Brot. So hatte jeder seine Aufgabe, seine Wichtigkeit im Gefüge. Durch Feierlichkeiten wurden die Bande innerhalb der Gemeinschaft gestärkt.
Feste waren außerdem eine Rhythmusvorgabe: Wie auch die Jahreszeiten gliederten sie das Leben, teilweise auch heute noch im Einklang mit natürlichen Ereignissen.
Geht man noch weiter in der Menschheitsgeschichte zurück, orientieren sich feierliche Zeremonien umso mehr an der Natur: Regenzeit, Vollmond, Sonnenwende, Erntezeit …


Die Erinnerung an diese Ursprünglichkeit war in jener Nacht deutlich zu spüren. Die Luft roch erdig und rauchig zugleich. Das rhythmische Stampfen der Füße, das gleichmäßige Wiegen der vielen Leiber und ich mittendrin – das war ebenso fremd wie seltsam vertraut.

Brauchte man eine kurze Atempause, ging es einen kleinen Pfad entlang durch den dunklen Wald. Nach wenigen Minuten verebbten Musik, Stimmen und Gelächter zu einem leisen Murmeln. Eine große Lichtung tat sich auf. Sie war dick mit Moos gepolstert: Der perfekte Ort, um unter den Sternen liegend zu Atem zu kommen.