Damaskus: Hinter der braunen Tür

Das erste Mal reiste ich im August 2010 nach Syrien. Zu dieser Zeit schwitzte das Land in der Hitze des Sommers. Wenige Monate später, im April 2011, bot sich ein neues Bild: Ben Ali war gestürzt, Mubarak und Ghadaffi in Ägypten und Libyen wankten, in Syrien begannen die ersten Demonstrationen.

Während meiner ersten Reise konnte ich das Flair Syriens in vollen Zügen aufnehmen. Damaskus schien eine einzige, große Familie zu sein. Offenheit, Neugierde, Interesse und Herzlichkeit en masse. Lichterketten in den Cafés, Wasserpfeifen auf den Straßen, oft durchdrang ein lautes Lachen die schwüle Luft. Über allem schwebte eine entspannte Leichtigkeit. Die bedrückende Wirkung der allgegenwärtigen Bilder Hafiz und Bashar al-Assads ließ langsam nach: Allzu leicht konnte man als Besucher vergessen, unter welchem Regime man sich befand.

Gasse in Aleppo

Erst mit der Zeit registrierte ich die kurzen, wachsamen Blicke – Hinweise auf die dahinter wirbelnden Gedanken. Ausgelassene Gespräche versiegten plötzlich zu leisem Geflüster, Köpfe neigten sich zueinander, um unerwünschte Mithörer abzuschirmen. Sekunden später war alles vorbei: Entspannung und Gelassenheit bahnten sich wieder ihren Weg durch die Diskussionen.
Doch diese flüchtigen, fast unauffälligen Momente erlaubten mir einen verstohlenen Blick unter die Oberfläche. Sie offenbarten die sozialen Mechanismen in der Diktatur, die misstrauischen Fragen und Unsicherheiten.
Wieso hat Mahmud so schnell eine Genehmigung für die Renovierung und Vermietung seines Hauses bekommen? Arbeitet er etwa mit der Regierung zusammen? Und Said? Wie konnte er dem obligatorischen Militärdienst ungeschoren entfliehen?

Jede Situation, jeder Fremde wurde mental abgetastet und eingeordnet. Denn die Menschen in Syrien lebten in Kreisen. Ein ausgelebtes Google+ Modell sozusagen. Nur der engste Kreis erlaubte eine vollkommene Offenheit. Je weiter sich der Kreis ausdehnte, desto oberflächlicher musste das Gespräch werden. Trotz dieses gelebten Misstrauens erschien mir das soziale Miteinander tief und echt empfunden.
Die Syrer schafften es, gemeinschaftliche Verbundenheit entgegen aller Widrigkeiten zu erhalten. Das syrische Volk setzt sich aus so vielen Ethnien und Religionen zusammen, dass der innere Zusammenhalt der Menschen dort einem Wunder glich. Ob Araber, Kurde oder Armenier, ob Sunnit, Alawit (Schiit), Druse oder Christ – die meisten Bewohner Syriens definierten sich in erster Linie als Syrer. Auch Flüchtlinge aus Palästina und seit dem Krieg auch aus Irak fügten sich nahtlos in die Gemeinschaft ein.

Es war der größtmögliche Vertrauensbeweis, in den „engsten Kreis“ eingeladen zu werden und Offenheit zu genießen.
Das kleine Haus, tief in dem arabischen Viertel der verworrenen Altstadt von Damaskus versteckt, war der Treffpunkt eines solchen Kreises. Niemand hätte die unscheinbare braune Eingangstür bemerkt, jeder wäre ahnungslos an ihr vorbei gelaufen.

Nächtliches Damaskus

Das 500 Jahre alte Gebäude strahlte einen verfallenden Charme aus. Ameisen krabbelten durch die vielzähligen Risse in den sandsteinfarbenen Mauern, ein Kätzchen nagte gelangweilt an einem Hühnerkopf, Staubflusen zierten die schweren Bodenfliesen. Doch konnte kaum ein Ort lebendiger sein. Er war Versammlungsort, Debattierklub, Planschmiede in einem – ein Ort, an dem man sich in aller Freiheit, außerhalb des Familieneinflusses, treffen konnte.

Die abgewetzten Sofas rund um den niedrigen Tisch im Innenhof blieben selten unbesetzt. Sie beherbergten und vereinten Journalisten, Kabarettisten, Künstler, Dozenten und Professoren, Demokratieanhänger, Marxisten, Anarchisten und Muslimbrüder. Wer zu spät kam, musste sich mit Kissen auf dem Boden setzen. Eine durchdringende Wolke Zigarettenqualms verhüllte meist die Szenerie. Sie lichtete sich gelegentlich, wenn die Tür sich für einen weiteren Mitstreiter öffnete. Nur kurz erhaschte man einen flüchtigen Blick auf Nüsse, Getränke und einige verstreute Backgammonsteine auf dem Tisch.

Dämmerung über Aleppo

Diskussionen wucherten wie Unkraut. Die Sprache der Debatten war englisch, so konnte jeder verstehen und mitreden. Innegehalten wurde nur, um die rauhen Kehlen mit Araq oder Cola zu ölen. Es war nicht leicht, den rasanten Wortwechseln zu folgen. Es ging natürlich um Syrien, aber auch um die USA, Napoleon und Ägypten, um Alkohol, Religion, den Militärdienst und etliches mehr. Selten stimmten die Meinungen überein.

Der wortgewandte Ahmad saß auf der Lehne eines Sofas. Er stritt sich in schnellem Tempo mit Samal, Marxist durch und durch. Neben ihnen entflammte ein reger Gedankenaustausch über die Demokratie. Die Fülle an verschiedenen Sichtweisen und Argumenten war faszinierend. Doch mich beeindruckte am meisten die Atmosphäre.
Trotz feuriger Reden und leidenschaftlichen Diskussionen lag über allem eine ungezwungene Akzeptanz. Anarchisten saßen Seite an Seite mit Muslimbrüdern, tief in ein Gespräch vertieft. Erstere mit Araq in der Hand, Letztere mit Limonade – dem islamischen Alkoholverbot folgend. Alle jedoch mit tiefem Respekt und Achtung für die Denk- und Lebensweisen der Anderen.

Irgendwann erklang laut und durchdringend der Alarm eines Handys. Die Unterhaltungen versiegten. Ich bemerkte erstaunt, dass viele Stunden vergangen waren. Salim schaltete den Alarmton aus. Er und Sayid griffen nach zwei Colaflaschen und leerten sie in einem Zug. Hastig schaufelten sie sich noch ein paar Nüsse in dem Mund, bevor sie zum Abschied winkten. Es war Ramadan, Fastenmonat: Als gläubige Muslime hielten sie sich an die islamische Vorschrift, einen Monat lang am Tage auf Essen, Getränke, Zigaretten und Sex zu verzichten. Der Handywarnton, eingestellt auf wenige Minuten vor offiziellem Fastenbeginn, ermöglichte den Beiden noch einen schnellen Snack vor dem Morgengebet.

Kühle Ruhe in der Moschee

Erst als die Tür hinter Salim und Sayid ins Schloss fiel, spürte ich, wie müde ich war. Schwerfällig wankte ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch und warf mich auf die dünne Matratze. Das Auf und Ab der Diskussionen unter mir schwappte durch den Innenhof zu meinem Fenster herauf, wiegte mich langsam in den Schlaf. Am nächsten Abend würden wir wieder im Rauch ersticken, Nüsse essen und Raki trinken und diskutieren, diskutieren, diskutieren …

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Aufgrund der politischen Situation in Syrien habe ich in diesem Artikel die Namen abgeändert.